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Anlage-Umwelt-Debatte Einblicke in die Psychologie

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Kurs

Einführung in die Psychologie

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Universität Augsburg

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Anlage-Umwelt-Debatte

Veröffentlicht am 25. Oktober 2013

“Du hast die Nase Deines Vaters.” Ein ganz normaler Satz, dessen Inhalt heute ebenso wie in vorwissenschaftlichen Zeiten einen Einfluss der Eltern auf ihre Kinder anerkennt, der nicht auf den Erziehungsstil zurückgeführt werden kann. Wir wissen seit langem, dass wir mit den Karten, die bereits vor unserer Geburt ausgeteilt werden, unser Leben lang spielen werden. Es würde die meisten doch sehr überraschen, wenn ein buddhistischer Koch und eine christliche Vermessungstechnikerin einen Koalabären zur Welt bringen würden. Und gleichzeitig ist uns

Einblicke in die Psychologie

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klar, dass wir mehr oder weniger aus diesem Blatt machen können. Es würde uns wahrscheinlich Kopfschmerzen bereiten, wenn ein brutaler Mörder einen Freispruch erhielte mit Verweis auf den Genort Xq11-12 des X-Chromosoms, der irgendwie mit Testosteron zusammenhängt, welches wiederum irgendwas mit Aggression zu tun hat.

Weniger (selbst)verständlich werden die Antworten, wenn wir unsere Aufmerksamkeit weg von den Extremen – der einzelnen Handlung auf der einen und der über die gesamte Lebensspanne hinweg stabilen Eigenschaft auf der anderen Seite – hin zu einem mittleren Niveau lenken und hier die gleichen Fragen stellen: Meine Freundin ist besser als ich in Mathe; mein Kollege redet viel, fühlt sich auf Parties pudelwohl und hat zu Hause immer den Fernseher im Hintergrund laufen, ich gehe gern allein im Wald spazieren; Du trinkst Kaffee, ich trinke Tee – wie kommt das? Sind da die Gene am Werk in der Art eines Bauplans, in dem ich mit meinem einzigartigen Eigenschaftenmix von Anfang an vorprogrammiert war? Oder ist es meine Umwelt (Freunde und Familie, Sportverein, die Luft, die ich atme), die seit dem Moment meiner Entstehung meinem anfangs formlosen Selbst mit Lebenserfahrungen Konturen verleiht? Oder – und hier verlassen wir den Bereich des Simplistischen – ist es ein Zusammenspiel von beidem?

Mit solchen Fragen beschäftigen sich unter anderem Psychologen, genauer gesagt gehören sie in die biologische Psychologie oder in die Persönlichkeitspsychologie. Und es mangelt auch nicht an Antworten. Viele Studien finden Zusammenhänge zwischen bestimmten Genausprägungen und komplexen Konstrukten wie Extraversion oder Suchtrisiko. Aber bei dem Versuch, diese Antworten zu deuten, stößt das Alltagsdenken oft an seine Grenzen. “Wenn Intelligenz zu 50% erblich ist, dann muss das doch heißen, dass ich nur auf eine Hälfte meiner kognitiven Fähigkeiten Einfluss nehmen kann. Oder?” Und auf der anderen Seite hadern Wissenschaftler damit, dass ihre wertvolle Forschung so wenig Aufmerksamkeit und Anerkennung bekommt. Experten sind oft geplagt vom ‘Fluch des Wissens’, d. h. sie können sich nur schwer vorstellen, wie es jemandem geht, der sich auf ihrem Fachgebiet nicht gut auskennt.

Was bedeutet es nun tatsächlich, dass Intelligenz eine Erblichkeit von 50% hat, und was bedeutet es nicht? Und was ist der praktische Wert der Untersuchung des Zusammenhangs zwischen dem Gen CRHR1 und dem Suchtverhalten von Menschen, was lässt sich mit sowas in der ‘echten Welt’ anfangen?

Von Zwillingen und Adoptionen

Um bei dieser alten Frage, ob die Veranlagungen oder die Lebensumgebung schwerer wiegen, mitreden zu können, ist es hilfreich sich (zumindest gedanklich) auf mögliche Wege zu ihrer Beantwortung zu begeben. Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms, die weite Verbreitung von Studien mit genetischen Markern und Knockout-Mäusen – dies sind relativ junge Entwicklungen, beruhend auf hochentwickelten Methoden, die auf tiefes Hintergrundwissen zurückgreifen. Untersuchungen zur Erblichkeit lassen sich jedoch auch mit herkömmlichen Mitteln und ganz wenigen Vorkenntnissen anstellen. Man braucht lediglich ein Messinstrument, z. B. einen IQ-Test, und den Wissensschnipsel, dass eineiige Zwillinge genetisch identisch sind, also 100% ihres Genmaterials gemeinsam haben, während zweieiige Zwillinge (und auch sonstige Geschwister) genau 50% ihres Genmaterials teilen. Mit diesen zwei Bausteinen kann jeder, der Zeit und Lust hat, Studien zur Erblichkeit von

Die bunten Balken veranschaulichen mögliche Ergebnisse solcher ‚Zwillingsforschung mit geteilter Umwelt’. Die Höhe der Balken gibt Auskunft über die Ähnlichkeit von Zwillingspaaren. Wenn die IQ-Werte der Geschwister im Durchschnitt nah beieinander liegen, ist der Balken hoch. Wenn die Intelligenzquotienten der Geschwister nichts miteinander zu tun haben, ist er niedrig. So können wir schon mal ablesen, dass eineiige Zwillinge sich im Durchschnitt ähnlicher sind als zweieiige Zwillinge, die sich wiederum ähnlicher sind als Adoptivgeschwister. Die Gene spielen also bei allen der drei abgebildeten Eigenschaften eine Rolle. Welcher Anteil der Balkenhöhe, also der Zwillingsähnlichkeit, ist nun erblich und wieviel davon lässt sich auf die Familie zurückführen? Eine Möglichkeit, den Umwelteinfluss zu bestimmen, ist, ihn von den blauen Balken abzulesen. Adoptivgeschwister teilen keinerlei Gene, darum muss jede Ähnlichkeit zwischen ihnen auf nichtgenetischen Faktoren beruhen. Eigenschaft A ist sehr stark durch die Umwelt beeinflusst. Die Eigenschaften B und C nicht so sehr. Die Ähnlichkeit eineiiger Zwillinge setzt sich aus dem genetischen Einfluss + dem Familieneinfluss zusammen. Wenn wir jetzt den Familieneinfluss abziehen, bleibt der Anlageneffekt übrig. Roter Balken – blauer Balken = genetisch bedingte Ähnlichkeit. Die Eigenschaften A und C sind nur sehr wenig erblich. Eigenschaft C ist aber im Gegensatz zur Eigenschaft A auch kaum von der Familie beeinflusst. Hier müssen also andere Faktoren maßgeblich beteiligt sein, z. B. Schule, Freunde, Sportverein. Eigenschaft B ist wenig vom familiären Umfeld und stark von den Genen geprägt – so ungefähr würde sich das entsprechende Balkendiagramm für Intelligenz darstellen.

Nach einigen Monaten, viel Arbeit und mit der neu erlernten Fähigkeit, eineiige Zwillinge auseinanderhalten zu können, stehen die Forscher mit verschiedenen Messergebnissen für die Erblichkeit von Intelligenz da. Die Werte befinden sich alle in der Nähe von 50%. Und da die Wege zu den Antworten ganz unterschiedlich waren (es sieht aus wie Schokolade, es riecht wie Schokolade, es schmeckt wie Schokolade), können die Wissenschaftler auch mit gewisser Zuversicht sagen, dass dieser Wert stimmt. Toll!

Und jetzt?

Meta-Punkt 1: Wer ist eigentlich dieser Durchschnitt?

Wie so oft in der psychologischen Forschung haben wir es nun mit einer einzigen Zahl zu tun, die eine Gruppe beschreibt und die in der Anwendung letztlich dem Einzelnen zugute kommen

soll. Genau gesagt bedeuten diese 50% Erblichkeit, dass wir höchstwahrscheinlich weniger Fehler machen, wenn wir die IQ-Werte eineiiger Zwillinge mit den IQ-Werten ihrer Zwillingsgeschwister schätzen, als wenn wir den allgemeinen Durchschnitt für die Schätzung verwenden. “Die Varianz der Intelligenz lässt sich zu 50% mit genetischen Unterschieden erklären” heißt das Ergebnis im Fachjargon. ‘Varianz’, ‘weniger Fehler’ – Ausdrücke, die umso weniger verlässlich sind, je kleiner die Gruppe ist, auf die sie angewendet werden. Und am einzelnen Fall zerschellen die Quantifizierungsversuche schließlich ganz.

Die blauen Punkte zeigen beispielhaft IQ-Werte von 22 eineiigen Zwillingspaaren. Links ist der IQ des einen, unten der des anderen Zwillings abgetragen. Die grüne Linie ist die Vorhersage der Psychologen. Man beachte, dass sie für keinen der eingetragenen Fälle zutrifft. Aussagen zur Erblichkeit sind nicht eins zu eins in die individuelle Sphäre übertragbar. Ich brauche also nicht alle Hoffnung auf geistige Höhenflüge fahren zu lassen, bloß weil ich meinen (biologischen) Eltern beim Kreuzworträtseln zugeguckt habe. Andererseits liegen die meisten Punkte ziemlich nah bei der Linie. Wenn ich meine Zukunft realistisch einzuschätzen versuche, ist es nicht unklug, meine Verwandten als Basis meiner Erwartungen mitzudenken. Der Apfel fällt nicht oft in Alaska.

Meta-Punkt 2: Das ‘gemäßigte-Breitengrade’-Paradigma

Die meiste sozialwissenschaftliche Forschung findet innerhalb desselben gesellschaftlichen Rahmens statt, den sie zu erhellen trachtet. Und je mehr dieser Rahmen sich verändert, umso mehr verlieren die alten Ergebnisse an Gehalt. Stellen wir uns z. B. vor, dass Lisa und Betti nicht nur bei ihrer Geburt getrennt wurden, sondern dass Betti darüberhinaus im Alter von sieben Jahren tödlich verunglückt ist. Tot zu sein wirkt sich meistens nicht vorteilhaft auf das Ausfüllen eines Intelligenztests aus. Müsste ihr Wert nicht eigentlich mit 0 in die Berechnungen eingehen und der IQ-Abfall als Umwelteinfluss gedeutet werden? Anderes Beispiel: Die Chorea Huntington ist eine fiese Krankheit, die von psychischen Beschwerden über Bewegungsstörungen bis hin zur Demenz heranwächst und im Durchschnitt 15 Jahre nach Auftreten der ersten Symptome mit dem Tod des Betroffenen endet. Etwas Besonderes an dieser Krankheit ist, dass sie 100%ig erblich ist und durch ein einziges Gen verursacht wird.

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Die sich ergebenden Erblichkeitsschätzungen sind jedoch keine statischen Größen. Statt dessen lassen sie sich als eine Art Gesellschaftsdiagnose verstehen, die helfen kann, Lebensumwelten besser an die Dispositionen ihrer Bewohner maßzuschneidern.

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht in Artikel und verschlagwortet mit Adoptionsforschung, Anlage-Umwelt-Debatte, Varianzaufklärung, Zwillingsforschung von Andreas Greuel. Permanenter Link zum Eintrag [psych.hypotheses/26].

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